Dieser Teil meines Reiseberichts wird eine Herausforderung. Mumbai kann ich eigentlich nicht beschreiben. Diese Stadt hat alle Emotionen bedient, die guten aber leider auch die schlechten. Erstes Statement: „Hase, für dich ist Indien nüscht!“ (Wir besprechen indische Städte ausführlich am Telefon, freu mich schon drauf.)
Mumbai bedient alle Vorurteile, die man über Indien hat: es ist laut, es ist dreckig, es ist chaotisch. So viele Menschen auf einem Haufen, schwer erträglich. Erstens: Mumbai ist nicht Indien, rundet aber mein Indienbild gut ab. Zweitens: auch Mumbai muss man mal erlebt haben, man kommt sehr geläutert aus dieser Stadt wieder.
Gestern als wir ankamen, haben wir im Theobroma-Cafe einen Schweden kennen gelernt. Wir sind ja manchmal schon etwas naiv, aber der Typ beginnt gerade eine dreimonatige Reise durch Indien mit 12 kg Gepäck auf dem Rücken aber ohne Zahnpasta, die musste er erst mal kaufen. Diese Aussage lassen wir mal so stehen. Er hatte wenig Vorstellungen, was so alles auf ihn zukommen wird, und wir mit unseren knapp 2 Wochen Erfahrung gaben ihm Tipps zum Zugfahren, Hygieneproblemen und ich habe auch gleich noch allgemeinverständlich in mittelmäßigem Englisch erklärt, warum eine Tollwutimpfung schon sinnvoll ist, Malaria ein Problem sein kann, und dass es in Indien so etwas wie japanische Enzephalitis geben kann. Mann, sind manche Menschen naiv.
Nach 1 Schoko-Brownie, der im Lonely Planet empfohlen wurde und ganz ok war, kein Vergleich zum cheese-cake in Kochi, gab es noch eine heiße Schokolade und eine weitere süße Schweinerei: irgend ein Schokoladen-Trüffelteil. Die ebenfalls erwähnten Pralinen fielen leider auf ganzer Linie durch. Nach einem Stopp am Taj Mahal Hotel (ganz nett) und am Gateway of India (ja, wir haben ein paar Fotos gemacht), ging eine Nachttour durch Mumbai los. Der Guide, ein junger Inder, war so was von nicht unser Fall. Aber 2 Stunden gingen rum, wir haben die Hanging Gardens gesehen, mit einem Blick über die Stadt und die Bucht, die super schön beleuchtet war. Die Parsen legen dort ihre Toten hin (keine Angst, man sieht nix, alles hinter Bäumen), denn die Leichen werden nicht beerdigt, nicht verbrannt oder anderweitig „vernichtet“, weil alle Elemente für die Parsi heilig sind und nicht verschmutzt werden dürfen. So werden die Leichen von Geiern gefressen, auch Krähen helfen mit und nur die Knochen bleiben übrig, diese werden in Ossuaren aufbewahrt (glaube ich). Nach Tibet, wo ja auch Vogelfraß das Problem des Dauerfrosts und des fehlenden Holz´ löst, für mich keine beklemmende Situation. Da aber die Kühe mittlerweile gegen irgend eine Krankheit geimpft werden, gehen die Geierbestände zurück. Die fressen nämlich auch die toten Tiere und vertragen wohl das immunisierte Kuhfleisch nicht gut. Das recherchiere ich nach, sowas kann ich nicht glauben. Auf jeden Fall werden die toten Parsi jetzt auch schon elektrisch verbrannt.
Wir waren im Rotlichtviertel von Mumbai. 2000 Frauen arbeiten dort. War mir übel bei dem Gedanken, dass in diesen „Behausungen“ „verkehrt“ wird. Da ist nichts von Privatsphäre und die Geschichten der Frauen sind ziemlich übel. Am Diebesmarkt waren wir auch und Iris, dort wollte ich deinen Fingerhut kaufen (gestern Abend waren wir nur mit dem Auto durchgefahren, heute ging es zu Fuß dorthin), aber ich habe so einen hässlichen Fingerhut bekommen, ich gucke in Dubai weiter.
Die Tour endete am Victoria-Bahnhof, mittlerweile Unesco-Weltkulturerbe. Zur Kolonialarchitektur in Mumbai muss man sagen: ist schon ganz nett, hat mich aber nicht umgehauen. Auf jeden Fall ist dieser Bahnhof eine der geschäftigsten Adressen der Stadt.
Heute hatten wir dann eine Privattour durch Mumbai. Nicht im klassischen Sinne, sondern vormittags mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt und nachmittags waren wir im Daravi-Slum.
Zum Vormittag: als der Inder von gestern Abend zur Tür der Hotellobby rein kam, war die Stimmung nicht gerade auf dem Höhepunkt. Zuerst besuchten wir einen Blumenmarkt, der wirklich sehr sehenswert war. Dorthin ging es mit dem öffentlich Nahverkehr, das muss man mal mitgemacht haben. Vom Blumenmarkt ging es weiter zur Laundry, im Vergleich zu der in Kochi nur größer, sonst nix hinzuzufügen. Weiter über den Diebesmarkt: da gibt es wirklich ALLES, was man sich nur vorstellen kann. Ganze Autos wurden von Teens in Einzelteile zerlegt.
An der Church-Station haben wir zur Mittagszeit die Dabawallas gesehen. Diese Institution in Indien liefert Essen aus: der Mann im Büro will in Mumbai nicht auf die gute Hausmannskost seiner Frau verzichten. Die kocht die morgens, packt sie in Aluminiumgefäße und von daheim holt der erste Dabawalla das Essen ab. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß oder mit dem Fahrrad nimmt das Essen dann seinen Lauf: am ersten Treffpunkt wechselt das Essen zum nächsten Dabawalla, der es zu einem weiteren Treffpunkt transportiert und dafür andere Essen von anderen Dabawallas übernimmt. Am Ende gibt es ein Netz von Wegen und ein letzter Dabawalla bringt das Essen schließlich ins Büro des Geschäftsmanns. Nach dem Essen geht das leere Geschirr auf umgekehrten Weg zurück nach Hause.
Dann kam einer der schwierigsten Punkte unserer Reise: die öffentliche Toilette in der Church-station: bin ich froh, dass ich ein Mann bin: Marten, ich hatte dein Vietnam-Erlebnis, aber das ist gegen das, was Doreen erlebt hat, gar nichts. Die musste über eine 5-köpfige Familie, die in und zwischen den ersten beiden Toilettenboxen der Damentoilette wohnte, in der es so stank, dass sich selbst die Inderinnen beim Rausgehen Tücher vor die Nase hielten, drübersteigen. Wir reden von Säuglingen und Kleinkindern, die in einer öffentlichen Toilette aufwachsen. Wie die Toilette weiter beschaffen war, spare ich mir an dieser Stelle. So viel Elend haben wir beide noch nicht auf unseren Reisen gesehen. Toiletten sind immer ein Problem, aber das hier war mehr als schwer erträglich. Der Guide hatte sich danach auch einiges anzuhören, obwohl die Tour von Reality-Tours durchgeführt wurde, bestanden genug Möglichkeiten, diesen Ekel vorher anderweitig zu lösen, in dem man in einem der Cafes einen Cafe genommen hätte und das dortige, wenn auch immer noch nicht mitteleuropäischen Verhältnissen entsprechende Klo genutzt hätte. Wir hätten die indische Realität auch so begriffen.
Nachmittags ging es dann in den Slum. Ich kann versuchen Daravi zu beschreiben, wer noch keine Dritte Welt Erfahrung hat, wird das nicht nachvollziehen können. Bevor wir aber in den Slum gingen, gab es noch eine halbwegs gute Nachricht: unser Guide wechselte. Der erste Typ schlief zwischenzeitlich vor Müdigkeit ein und hatte für Ersatz gesorgt, aber auch dieser Guide war schon recht fertig. Er erklärte zwar besser, wenn auch nicht um Welten, man fühlte sich auch irgendwie besser umsorgt.
Also zum Slum: das ist eine Stadt in der Stadt. Im Slum gibt es alles, was es auch in den Wohngebieten gibt. Satelittenfernsehen, Schulen, Supermärkte, Bäckereien, Geldautomaten etc. Aber eben alles in einem unglaublichen Dreck, unter einfachsten Bedingungen. Mich schockte am meisten, als wir in einem typischen Haus des Slums standen. Eine sechsköpfige Familie lebt auf 12 qm. Es gibt eine Ablagemöglichkeit auf der Stirnseite der Einzimmerwohnung, in der rechten hinteren Ecke ist die Küche. Rechts vorn, abgetrennt durch einen Vorhang ist das private Bad der Frauen. Ohne Worte! Die Familie schläft nebeneinander im Wohnzimmer (der schlechteste Platz ist wohl direkt neben dem Badvorhang) und oberhalb der Eingangstür, die vorn links ist, ist nochmal ein Regal mit Ablagemöglichkeit. In dieser Hütte findet das Leben statt. Bis zur Hochzeit (durchschnittlich mit 25 Jahren) bleiben die Kinder bei der Familie. Unfassbar. Auf 12 qm spielt sich alles ab: Gesundheit und Krankheit, wohnen und schlafen, Freud und Leid, Sex(?). Gerade der letzte Punkt hat mich unwahrscheinlich nachdenklich gestimmt. Mich wundert, obwohl ich schon vorher wusste, dass das ein Problem der indischen Gesellschaft ist, nicht mehr, warum pubertierende Jungen als Zeichen ihrer Freundschaft Hand in Hand gehen oder blonde Europäerinnen (und Europäer) einen „speziellen“ Status haben. Wir haben diese Dinge schon mit Steve in Mysore diskutiert, aber hier holen sie uns ziemlich eindrücklich ein. Im Slum zu wohnen ist Gott sei Dank für Inder kein Stigma, hier zählt allein Qualifikation. So ist ein Slumbewohner keinen Vorurteilen ausgesetzt, bspw. bei Bewerbungen.
Ok, was haben wir noch gesehen? Los ging alles in einem Fabrikgelände, in dem Plastikmüll aufgearbeitet wird. 2 Inder, einer Ende 20, der andere 16 (verheiratet mit einer 12jährigen Inderin), beide sahen aus, als seien sie mindestens 20 Jahre älter, gingen dort ihrer Arbeit nach. Dass der Plastikmüll mittlerweile aus den USA und China nach Mumbai zur Aufarbeitung geschickt wird, wurde uns auch nochmal deutlich vor Augen geführt. Angeblich liefert Europa keinen Müll, s(w)ollen wir das glauben? Wie Ledergürtel hergestellt werden, haben wir gesehen, ebenso wie Ölkanister wieder aufgearbeitet werden. Wir waren in einer Schule, in der jungen Slumbewohnern die Möglichkeit gegeben wird, kostenlos Englisch zu lernen. Wir haben in einer Slumbäckerei Blätterteig gegessen, direkt aus dem Ofen. Mädchen fertigten vor den Häusern zusammen mit ihren Müttern Pappadams, die in der Sonne auf Schirmen aus Holz trockneten. Und wir sind durch die engen Gassen des Slums gezogen, das ist die zweite eindrückliche Erinnerung: so viel Dreck habe ich noch NIRGENDWO gesehen. Und wir haben 2 Wochen Indien hinter uns, ich glaube, das Level, das ich ertragen kann, ist zur Zeit sehr hoch. In den Gassen, die dunkel sind, Sonne kommt dort nie hin, passen gerade so 2 Menschen aneinander vorbei. Man ist ständig damit beschäftigt nicht gegen irgendwelche Dinge, die über dem Kopf heraus ragen, zu laufen und unter wackeligen Steinplatten, die als Fußweg dienen und auch mal recht glitschig sein können, fließt die Kanalisation dahin. Im Slum gibt es Kommunen, die hinsichtlich ihres Glaubens zusammen gehören. Also Hindu-Viertel, Moslem-Viertel usw. Das Miteinander ist schwieriger geworden, das zeigten uns ja die Anschläge in Mumbai vor einigen Jahren, bei diesen Unruhen kamen zusammen etwa 900 Menschen ums leben.
Ach ja: Infrastruktur im Slum: 60% der Bewohner nutzen öffentliche Toiletten, deren Niveau höchstens das der Toiletten im Bahnhof hat, 35% erleichtern sich irgendwo und die restlichen 5% haben wohl etwas größere Häuser, laut Auskunft des Inders 25 qm groß, mit eigenen Toiletten.
Die Inder, die die Gruppen führen, sind teilweise selbst Slumbewohner. Und auf einige unserer Fragen, bspw. wann ein Inder von daheim auszieht, konnte dieser nur begrenzt Antwort geben, weil er sich die westeuropäischen Lebensweisen überhaupt nicht vorstellen konnte.
Auch wenn ich das jetzt alles schon mit dem Blick des Mitteleuropäers geschrieben habe und einige Dinge nur extrem schwer zu ertragen sind, empfehlen wir beide diese Touren. Sie zeigen ein Indien, das vor großen Veränderungen und (unlösbaren?) Problemen steht. Das Preis-Leistungs-Verhältnis des Anbieters war eher schlecht, einfach weil viele unserer Fragen offen blieben. Aber allein diese Teile Indiens zu sehen und dieses Land eben trotz all seiner Schönheit, Faszination und Exotik nicht zu verklären, gehört auch zu einem kompletten Bild. Wenn ich auf Facebook Fotoalben sehe, die mit „Indien – ein Märchen“ betitelt sind, wünsche ich mir die Naivität zurück, mit der wir in Kerala gereist sind. 55% der Menschen Mumbais leben in Slums, das, was wir gesehen haben, ist nicht die Ausnahme, das ist die Regel!!! Unter den Polizisten ist die Rate übrigens um einiges höher; Kriminalität ist aber kein größeres Problem der Slums als im Rest des Landes.
Als wir vom Slum zurück kamen, hatte ich das dringende Bedürfnis zu duschen, nicht, weil ich mich schmutzig fühlte, sondern um einige schwer verdauliche Einsichten abzuwaschen.
Der Abend war dann sehr versöhnlich, wir waren in einem Buchladen, in dem ich ein weiteres indisches Kochbuch gekauft habe, im angeschlossenen Kaffee haben wir leckeren Kuchen gegessen und nach einer weiteren kurzen Sightseeing-Tour ging es in ein Restaurant, in dem wir das beste Fischcurry der ganzen Reise hatten, das nur mit dem Chicken-Massala in Varkala und dem Veg-Hyderabadi in Mysore konkurrieren muss. Ach ja: ein paar Hosen habe ich auch noch geshoppt: eine Levis = 40 €. Und da wir im Slum gesehen haben, dass auch Armani, YSL und Dior hier produzieren lassen (nein, das sind keine Plagiate!), fiel mir das Einkaufen richtig leicht.
Mal schauen, ob es von dieser Reise noch einen Gastkommentar von Doreen auf dieser Website gibt. Alles in allem rate ich jedem, Indien unbedingt zu besuchen. Es ist ein interessantes, exotisches Land mit vielen schönen Ecken, an das ich jedoch nicht mein Herz verloren habe. Ich bereise bestimmt noch den Norden, aber mit etwas zeitlichem Abstand.
Ach ja: wir verkünden hiermit, dass es weder Durchfall noch Erbrechen auf unserer Indienreise gab, es geht also!!!